Die rechtfertigende Pflichtenkollision ist ein gewohnheitsrechtlich anerkannter Rechtfertigungsgrund, der gesetzlich nicht geregelt ist. Am häufigsten kommt sie bei Unterlassungsdelikten zur Anwendung, wenn den Verpflichteten mehrere Handlungspflichten treffen, er aber nur eine auf Kosten der anderen erfüllen kann. Er befindet sich also in einer unausweichlichen „Entweder-Oder“-Situation.1

Die rechtfertigende Pflichtenkollision darf nicht mit dem übergesetzlichen entschuldigenden Notstand verwechselt werden, für den ähnliche Voraussetzungen gelten, der aber nur einen Entschuldigungsgrund darstellt.

Im Folgenden zeige ich Dir zuerst ein Prüfungsschema zur rechtfertigenden Pflichtenkollision. Darunter findest Du dann eine Zusammenfassung zur rechtfertigenden Pflichtenkollision mit Erläuterungen.

Prüfungsschema zur rechtfertigenden Pflichtenkollision:

A. Objektive Voraussetzungen

I. Konfliktlage

1. Kollision (mindestens) zweier Handlungspflichten

a) Kollision gleichartiger Pflichten

b) Kollision ungleichartiger Pflichten

2. Rangverhältnis der Pflichten

II. Erfüllung einer Handlungspflicht auf Kosten der anderen

B. Subjektive Voraussetzung: Kenntnis der Pflichtenkollision

Zusammenfassung zur rechtfertigenden Pflichtenkollision mit Erläuterungen:

A. Objektive Voraussetzungen

I. Konfliktlage

1. Kollision (mindestens) zweier Handlungspflichten

Den Täter müssen in der Regel mindestens zwei Handlungspflichten treffen, von denen er nur eine erfüllen kann.

Beispiel: Der Vater kann nur eines seiner ertrinkenden Kinder retten.

Theoretisch denkbar ist auch, dass mehrere Unterlassungspflichten zusammentreffen und diese Verbote den Verhaltensspielraum des Täters vollständig erschöpfen. Diese Fälle kommen in der Praxis aber selten vor.2 (Stets vorgebrachtes Beispiel ist der Geisterfahrer auf der Autobahn, der weder wenden noch stehen bleiben darf.)

Kollidiert eine Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht, zum Beispiel, wenn der Vater einen Dritten aktiv töten muss, um sein Kind zu retten, ist nach § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) zu entscheiden, das Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision also nicht einschlägig.3

2. Rangverhältnis der Pflichten

Welche der kollidierenden Handlungspflichten der Adressat im konkreten Fall zu erfüllen hat, hängt vom Wert der im Widerstreit stehenden Pflichten ab.4

Der Täter handelt, wenn er entweder

  • eine höherwertige Pflicht (z.B. eine Garantenpflicht nach § 13 StGB) auf Kosten einer geringerwertigen Pflicht (z.B. einer schlichte Handlungspflicht) erfüllt , oder
  • einer von zwei gleichwertigen Handlungspflichten nachkommt.5 

a) Kollision gleichartiger Pflichten

Wenn Pflichten gleicher Art, also z.B. mehrere Garantenpflichten kollidieren, bestimmt sich das Rangverhältnis nach dem Grad der Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter, um deren Erhaltung es geht.6

Maßgebliche Kriterien sind dabei7:

  • die abstrakte Bedeutung des gefährdeten Rechtsgutes,
  • die zeitliche Nähe der drohenden Gefahr,
  • das Ausmaß der drohenden Verletzung bei gleichwertigen Rechtsgütern und
  • die Selbsthilfemöglichkeiten des Gefährdeten.

b) Kollision ungleichartiger Pflichten

Bei der Kollision ungleichartiger Pflichten hat nach wohl überwiegender Meinung die höherrangige Pflicht Vorrang, soweit nicht das durch die geringerwertige Pflicht abgesicherte Interesse wesentlich überwiegt.8 Im Detail wird hier einiges an Schattierungen vertreten. Am Ende laufen fast alle Ansichten auf irgendeine Form von Gesamtabwägung des Ranges der Pflichten und der gefährdeten Rechtsgüter hinaus.

  • Garantenpflichten nach § 13 StGB sind grundsätzlich höherwertig als schlichte Handlungspflichten.9
  • Aber Achtung: Bei Zusammentreffen einer Garantenpflicht mit eine Hilfeleistungspflicht nach § 323c StGB ist der Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung schon gar nicht einschlägig, da der Wortlaut des § 323c Abs. 1 StGB eine Zumutbarkeit erfordert, welche bei Kollision mit einer Garantenpflicht aus § 13 StGB nicht gegeben ist.10 Somit kommt man bei Prüfung des § 323c StGB schon gar nicht bis zum Prüfungspunkt der Rechtswidrigkeit und also auch nicht zur rechtfertigenden Pflichtenkollision.
  • Der strafrechtliche Schutz eines Rechtsgutes ist immer höherwertiger als eine bloß zivilrechtliche Handlungspflicht, sodass die Erfüllung eines zivilrechtlichen Anspruchs nicht die Verletzung eines Straftatbestands rechtfertigen kann.11

II. Erfüllung einer Pflicht auf Kosten der anderen

Der Verpflichtete muss eine der Pflichten zulasten der anderen erfüllen.

B. Subjektive Voraussetzung: Kenntnis der Pflichtenkollision 

Der Täter muss in Kenntnis der rechtfertigenden Situation handeln.12

Schlusswort

Ich hoffe, Du fandest diesen Überblick über die rechtfertigende Pflichtenkollision hilfreich. Wenn Du Verbesserungsvorschläge hast, lass es mich gerne wissen! Ich bin immer bemüht, die Inhalte auf Juratopia weiter zu verbessern. 

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Quellennachweise:

  1. Rönnau, Grundwissen – Strafrecht: Rechtfertigende Pflichtenkollision, JuS 2013, 113.
  2. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 71/72.
  3. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 71/72; Rönnau, Jus 2013, 113.
  4. Rönnau, Jus 2013, 113, 114.
  5. Vgl. BGH, Beschluss vom 30.07.2003, Az.: 5 StR 221/03; Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 71/72.
  6. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 74.
  7. Vgl. insoweit Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 74; Rönnau, JuS 2013, 113, 114.
  8. so z.B. Rönnau, JuS 2013, 113, 114 für Garantenpflicht und allgemeine Handlungspflicht m.w.N..
  9. Schönke/Schröder, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff., Rn. 75.
  10. Schönke/Schröder, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff., Rn. 75.
  11. BGH, Beschluss vom 28.05.2002, Az. 5 StR 16/02.
  12. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 77.

Artikel verfasst von: 

Lucas Kleinschmitt

Lucas ist Volljurist und Gründer von Juratopia. Nach Studium an der Bucerius Law School und Referendariat in Hamburg hat er einige Jahre als Anwalt in der Großkanzlei und als Syndikus in einem DAX-Konzern gearbeitet. Heute ist er General Counsel in einem IoT Startup.

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