Bei der mutmaßlichen Einwilligung handelt es sich um einen Rechtfertigungsgrund, der gesetzlich nicht geregelt, aber gewohnheitsrechtlich anerkannt ist.1

Die mutmaßliche Einwilligung betrifft Konstellationen, in denen keine tatsächliche Einwilligung vorliegt, weil entweder ein tatbestandsausschließendes Einverständnis oder eine rechtfertigende Einwilligung des Betroffenen nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.2

Aus einer Würdigung aller Umstände ergibt sich jedoch, dass der Betroffene, wenn er gefragt werden könnte, seine Zustimmung erklären würde.3 Maßgeblich für eine Rechtfertigung ist deshalb maßgebend allein der hypothetische Wille des Betroffenen und nicht eine objektive Interessenabwägung.4              

Im Folgenden zeige ich Dir zuerst ein Prüfungsschema zur mutmaßlichen Einwilligung. Darunter findest Du dann eine Zusammenfassung der wichtigsten Definitionen und Klausurprobleme zur mutmaßlichen Einwilligung.

Prüfungsschema zur mutmaßlichen Einwilligung:

A. Objektive Rechtfertigungselemente

I. Disponibilität des geschützten Rechtsgutes

II. Dispositionsbefugnis des mutmaßlich Einwilligenden

III. Einwilligungsfähigkeit

IV. Mutmaßliche Einwilligung

1. Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung

2. Übereinstimmung mit dem hypothetischen Willen des Rechtsgutsinhabers zum Tatzeitpunkt

3. Sonderkonstellationen

V. Kein Verstoß gegen die guten Sitten

B. Subjektives Rechtfertigungselement

Zusammenfassung der wichtigsten Definitionen und Klausurprobleme zur mutmaßlichen Einwilligung:

Bei der mutmaßlichen Einwilligung handelt es sich um ein „Einwilligungssurrogat“, sodass die Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung mit Ausnahme der tatsächlich erteilten Einwilligungserklärung erfüllt sein müssen.5

A. Objektive Rechtfertigungselemente

I. Disponibilität des geschützten Rechtsgutes

Eine mutmaßliche Einwilligung ist nur möglich bei Tatbeständen, die Individualrechtsgüter schützen, also z.B. §§ 185 ff. StGB, §§ 223 ff. StGB oder Eigentums- und Vermögensdelikten.

Eine mutmaßliche Einwilligung in die Verletzung von Rechtsgütern der Allgemeinheit, etwa bei den Straßenverkehrsdelikten, gibt es nicht, da es dann an der Disponibilität des geschützten Rechtsguts fehlt.6

Zudem ist die Disponibilität insbesondere beim Rechtsgut „Leben“ eingeschränkt: Grundsätzlich kann niemand kann in seine vorsätzliche Tötung einwilligen. Das folgt schon aus § 216 StGB. (Ausnahme gelten teilweise im Rahmen der Sterbehilfe). Eine Einwilligung in eine bloße Lebensgefährdung ist hingegen grundsätzlich möglich, kann aber nach § 228 StGB sittenwidrig sein.

II. Dispositionsbefugnis des mutmaßlich Einwilligenden

Der mutmaßlich Einwilligende muss über das verletzte Rechtsgut dispositionsbefugt sein, also gerade Inhaber des Rechtsguts sein.7

III. Einwilligungsfähigkeit

Für die Einwilligungsfähigkeit genügt nach h.M. die von Geschäftsfähigkeit und bestimmten Altersgrenzen unabhängige tatsächliche („natürliche“) Einsichts- und Urteilsfähigkeit.8

Die wichtigsten Klausurprobleme zur Einwilligungsfähigkeit:

  • Angetrunkene: Die erforderliche Urteilskraft kann bei einem Angetrunkenen fehlen, auch wenn kein Fall der Geschäftsunfähigkeit oder Zurechnungsunfähigkeit gegeben ist.9
  • Minderjährige: Es bestehen keine starren Altersgrenzen, sondern es kommt auf den individuellen Reifegrad an. Der Minderjährige muss in der Lage sein, Wesen, Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs voll zu erfassen und seinen Willen danach zu bestimmen.10 Es gelten umso strengere Anforderungen, je schwerwiegender der Eingriff ist bzw. je schwieriger seine Folgen abzuschätzen sind.11
  • Geisteskrankheiten und andere psychische Störungen: Insbesondere beim ärztlichen Heileingriff ist auch hier maßgeblich, ob der Betroffene die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzt.12

IV. Mutmaßliche Einwilligung

1. Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung

Es darf keine zumutbare Möglichkeit bestehen, eine tatsächliche Einwilligung vom Betroffenen rechtzeitig einzuholen (Subsidiarität). In der Praxis ist das insbesondere bei ärztlichen Heileingriffen relevant.13

Ist die Einholung einer Einwilligung rechtzeitig möglich, schließt das eine Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung stets aus.14

Umstritten ist, ob eine mutmaßliche Einwilligung angenommen werden kann, wenn eine tatsächliche Einwilligung zwar eingeholt werden könnte, jedoch offensichtlich ist, dass der Rechtsgutinhaber auf eine Befragung keinen Wert legt.15

2. Übereinstimmung mit dem hypothetischen Willen des Rechtsgutsinhabers zum Tatzeitpunkt

Die Tat muss außerdem mit dem hypothetischen Willen des Rechtsgutsinhabers entsprechen.16]

Indizien für den mutmaßlichen Willen des Betroffenen sind insbesondere frühere Erklärungen, Äußerungen und Stellungnahmen.17

Ein erkennbar entgegenstehender Wille – auch wenn er bei objektiver Betrachtung unvernünftig erscheint – ist stets zu beachten verhindert eine mutmaßliche Einwilligung.18

Wenn keine individuellen Anhaltspunkte darüber vorliegen, wie der Betroffene entschieden hätte, wenn man ihn vor der Tat hätte befragen können, ist davon auszugehen, dass der Wille des Betroffenen dem entsprochen hätte, was gemeinhin als normal und vernünftig gilt.19

Maßgeblich können hierbei vor allem die ohne Vornahme der Tathandlung drohenden Risiken sein, insbesondere bei ärztlichen Heileingriffen.20

Wichtig: Wenn sich nach den eben dargestellten Grundsätzen insgesamt ein hypothetischer Wille des Rechtsgutinhabers für die Tat ergibt, ist die Tat auch dann gerechtfertigt, wenn sich hinterher herausstellt, dass der Berechtigte nicht eingewilligt hätte.21

V. Kein Verstoß gegen die guten Sitten

Im Rahmen der Körperverletzungsdelikte nach §§ 223 ff. StGB ist noch § 228 StGB zu beachten. Danach ist die Tat rechtswidrig, wenn sie trotz (mutmaßlichen) Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. Hierfür ist maßgeblich, ob ein Verstoß gegen das sittliche Empfinden eines gerecht Denkenden vorliegt.22

Beachte: Entscheidend ist danach die Sittenwidrigkeit der Tat, nicht die der mutmaßlichen Einwilligung.

B. Subjektives Rechtfertigungselement

Das subjektive Rechtfertigungselement erfordert ein Handeln in Kenntnis der Umstände, die einen Eingriff auf Grund mutmaßlicher Einwilligung gestatten.23

Der Täter muss also die Dringlichkeit des Eingriffs sowie die Unmöglichkeit, rechtzeitig eine Einwilligung des Berechtigten einzuholen, kennen. Außerdem müssen ihm die Tatsachen bekannt sein, die einen Rückschluss auf die mutmaßliche Billigung der Tat durch den Rechtsgutsinhaber zulassen.24

Schlusswort

Ich hoffe, Du fandest diesen Überblick über die mutmaßliche Einwilligung hilfreich. Wenn Du Verbesserungsvorschläge hast, lass es mich gerne wissen! Ich bin immer bemüht, die Inhalte auf Juratopia weiter zu verbessern.

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Quellennachweise:

  1. BVerfG, Beschluss vom 14.12.2001, Az.: 2 BvR 152/01.
  2. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 54.
  3. Vgl. etwa BGH, Urteil vom 04.10.1999, Az.: 5 StR 712/98.
  4. BGH, Urteil vom 25.03.1988, Az.: 2 StR 93/88; Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 54.
  5. Vgl. Rönnau/Meier: Grundwissen – Strafrecht: Mutmaßliche Einwilligung, JuS 2018, 851, 853
  6. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 36.
  7. Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff., Rn. 36.
  8. BGH, Urteil vom 10.02.1959, Az.: 5 StR 533/58.
  9. BGH, Urteil vom 22.01.1953, Az.: 4 StR 373/52.
  10. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 40.
  11. BGH, Urteil vom 10.02.1959, Az.: 5 StR 533/58.
  12. OLG Hamm, Beschluss vom 13.11.1982, Az.: 15 W 151/81.
  13. Rönnau/Meier, JuS 2018, 851, 853
  14. BGH, Urteil vom 01.02.1961, Az.: 2 StR 457/60.
  15. dazu Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkung zu §§ 32 ff., Rn. 54.
  16. dazu Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkung zu §§ 32 ff., Rn. 54.
  17. Rönnau/Meier, JuS 2018, 851, 854.
  18. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff. StGB, Rn. 57.
  19. BGH, Urteil vom 25.03.1988, Az.: 2 StR 93/88.
  20. BGH, Urteil vom 04.10.1999, Az.: 5 StR 712/98.
  21. Rönnau/Meier, JuS 2018, 851, 854.
  22. BGH, Urteil vom 22.01.1953, Az.: 4 StR 373/52.
  23. Rönnau/Meier, JuS 2018, 851, 855.
  24. Rönnau/Meier, JuS 2018, 851, 855.

Artikel verfasst von: 

Lucas Kleinschmitt

Lucas ist Volljurist und Gründer von Juratopia. Nach Studium an der Bucerius Law School und Referendariat in Hamburg hat er einige Jahre als Anwalt in der Großkanzlei und als Syndikus in einem DAX-Konzern gearbeitet. Heute ist er General Counsel in einem IoT Startup.

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