Ob auch bei Fahrlässigkeitsdelikten eine Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB möglich ist, ist umstritten. In diesem Beitrag fassen wir den Meinungsstreit zusammen:

Fallbeispiel:

A und B stehen auf einer Brücke und werfen abwechselnd Steine auf die Autos, die auf der darunter verlaufenden Straße fahren. Sie sind sich der Gefährlichkeit ihres Verhaltens zwar bewusst, haben aber keinen Tötungsvorsatz. Einer der Steine verletzt den Autofahrer X tödlich. Wer diesen konkreten Stein geworfen hat, lässt sich nicht feststellen.

Strafbarkeit der A und B gem. § 222 StGB?

Weil im konkreten Fall nicht nachweisbar ist, wer tödlichen Stein geworfen hat, bedarf es für eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung der gegenseitigen mittäterschaftlichen Zurechnung der Steinwürfe von A und B über § 25 Abs. 2 StGB. Anderenfalls fehlt es an einer nachweisbar für den Tod des X kausalen Tathandlung, soweit man nicht die Beteiligung am Fassen des Entschlusses zum gemeinsamen Steinwurf als kausale Tathandlung sieht (dazu unten).

Herrschende Meinung: Fahrlässige Mittäterschaft ist nicht möglich.1

Argumente:

  • Voraussetzung für einen gemeinsamen Tatplan ist vorsätzliches Handeln.
  • Für die Konstruktion einer fahrlässigen Mittäterschaft besteht kein Bedürfnis. Das Kausalitätsproblem kann dadurch gelöst werden, dass die Beteiligung am Entschluss des anderen kausal für den Erfolg war. Auf diese Weise besteht eine nebentäterschaftliche Strafbarkeit, sofern objektive Zurechenbarkeit besteht.2
  • Darüber hinaus besteht kein Grund für die Ausdehnung der Strafbarkeit auf die Verletzung von Sorgfaltspflichten Dritter.

Mindermeinung: Fahrlässige Mittäterschaft ist möglich.

Argumente:

  • Der Wortlaut des § 25 Abs. 2 StGB fordert – anders als die §§ 26, 27 StGB – kein vorsätzliches Handeln.
  • Es genügt, dass der gemeinsame Tatplan sich auf die Handlungen bezieht, nicht auf den Erfolg.3
  • Die Gefahr uferloser Haftung für das Verhalten Dritter ist nicht stichhaltig, da das Erfordernis eines gemeinsamen Tatplans diese begrenzt.4 Vielmehr wird gerade der Sinn jeder klassischen Mittäterschaft erreicht, alle Mittäter zur Verantwortung zu ziehen. 5
  • Die Annahme einer Nebentäterschaft bei einer gemeinsam verabredeten Tat ist überdehnt den Täterschaftsbegriff und bildet das Geschehen nicht korrekt ab.6

Voraussetzungen für die fahrlässige Mittäterschaft, sofern sie zugelassen wird:

Lässt man eine mittäterschaftliche Zurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten zu, so wird diese zumeist an untenstehende Voraussetzungen geknüpft (welche in unserem Fallbeispiel sämtlich zu bejahen wären):

  • Verletzung identischer Sorgfaltspflichten durch arbeitsteiliges Zusammenwirken7
  • Bewusstes und gewolltes Zusammenwirken an einem gemeinsamen Handlungsprojekt8
  • Erkennbarkeit der Gefährlichkeit dieses Gesamtprojekts 9
  • Keine vorrangige Verantwortlichkeit eines Beteiligten, insbes. Garanten ggü. Nichtgaranten10
  • Allgemeine Voraussetzungen der Mittäterschaft.

Quellennachweise:

  1. Kühl, in: Lackner/Kühl StGB, 29. Auflage 2018, § 25 Rn. 13 mit weiteren Nachweisen.
  2. zu dieser Argumentation zusammenfassend und sie im Ergebnis ablehnend Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorb. zu §§ 25 ff. Rn. 113.
  3. Renzikowski, in: ZIS 2021, 97 f.
  4. Renzikowski, in: ZIS 2021, 98.
  5. Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorb. zu §§ 25 ff. Rn. 114.
  6. Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorb. zu §§ 25 ff. Rn. 112.
  7. Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorb. zu §§ 25 ff. Rn. 115.
  8. Kudlich, in: v. Heintschel-Heinegg, Beck-OK StGB 50. Edition, Stand: 01.05.2021, § 25 Rn. 60.
  9. Kudlich, in: v. Heintschel-Heinegg, Beck-OK StGB 50. Edition, Stand: 01.05.2021, § 25 Rn. 60.
  10. Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, Vorb. zu §§ 25 ff. Rn. 117.

Artikel verfasst von: 

Lucas Kleinschmitt und Merle Hamm

Lucas ist Volljurist und Gründer von Juratopia. Nach einigen Jahren in Großkanzleien arbeitet er heute als Syndikusrechtsanwalt in einem DAX-Konzern. Merle hat ihr Jurastudium mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsstrafrecht in Bremen absolviert und bereitet sich derzeit auf das Referendariat vor.

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