Der Notstand kann nicht nur ein Rechtfertigungsgrund, sondern auch ein Entschuldigungsgrund sein. Der entschuldigende Notstand nach § 35 StGB ist anwendbar, wenn eine Rechtfertigung nach § 34 StGB ausscheidet.1
Das kommt zum Beispiel bei der Tötung eines Menschen zum Schutze eines anderen Menschen in Betracht, da eine Abwägung von Leben gegen Leben unzulässig ist und deshalb eine Rechtfertigung nach § 34 StGB jedenfalls an der dort erforderlichen Interessenabwägung scheitert.
Beim entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB findet eine Interessenabwägung hingegen nicht statt.
Im Folgenden zeige ich Dir zuerst ein Prüfungsschema zum entschuldigenden Notstand. Darunter findest Du dann eine Zusammenfassung zum entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB mit Definitionen und Klausurproblemen.
Prüfungsschema zum Notstand nach § 35 StGB:
A. Objektive Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes
I. Notstandslage
1. Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut des privilegierten Personenkreises
a) Gefahr
b) für ein notstandsfähiges Rechtsgut
c) des privilegierten Personenkreises
2. Gegenwärtigkeit der Gefahr
II. Notstandshandlung
1. Erforderlichkeit (nicht anders abwendbar)
2. Unzumutbarkeitsklausel, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB
B. Subjektive Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes
C. Strafzumessung
Zusammenfassung zum Notstand nach § 35 StGB mit den wichtigsten Definitionen und Klausurproblemen:
A. Objektive Voraussetzungen des Notstandes
I. Notstandslage
1. Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut des privilegierten Personenkreises
a) Gefahr
Der Gefahrbegriff ist beim entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB derselbe wie beim rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB (zum Schema).
Auch eine Gefahr im Sinne von § 35 StGB ist also ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht.2
b) für ein notstandsfähiges Rechtsgut
Im Unterschied zum rechtfertigenden Notstand muss die Gefahr bei § 35 StGB aber für eines der abschließend aufgeführten Rechtsgüter Leben, Leib oder Freiheit bestehen.
Der entschuldigende Notstand ist damit bewusst auf die Rechtsgüter beschränkt, die die physische Existenz des Menschen ausmachen oder für diese von elementarer Bedeutung sind.5
- Leben: Auch das werdende Leben, also der Nasciturus, ist nach § 35 StGB notstandsfähig.6
- Leib: Geschützt ist nur die leibliche Unversehrtheit, nicht auch die geistig-seelische.7
- Freiheit: § 35 StGB erfasst nicht die allgemeine Handlungs- und Entscheidungsfreiheit im Sinne von § 240 StGB, sondern allein die durch § 239 StGB geschützte körperliche Bewegungsfreiheit, weil nur diese eine mit Leib und Leben annähernd vergleichbare existentielle Bedeutung hat.8
c) des privilegierten Personenkreises
Die Gefahr muss dem Täter selbst, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person drohen. Wenn die Gefahr sonstigen Dritten droht, kommt der sogenannte übergesetzliche entschuldigende Notstand in Betracht.9
2. Gegenwärtigkeit der Gefahr
Auch hier gelten für den entschuldigenden Notstand dieselben Grundsätze wie für den rechtfertigenden Notstand:
Die Gefahr ist gegenwärtig, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden.10
Klausurproblem: Dauergefahr
- Eine Dauergefahr ist ein länger andauernder Zustand, der jederzeit, also auch alsbald, in einen Schaden umschlagen kann, auch wenn die Möglichkeit offenbleibt, dass der Eintritt des Schadens noch eine gewisse Zeit auf sich warten lässt.11 Klassisches Beispiel ist der Haustyrann.
- Auch eine Dauergefahr ist eine Gefahr, die einen entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB begründen kann.12 Weitere Beispiele sind die Einsturzgefahr eines baufälligen Hauses oder die Gefährlichkeit einer unberechenbaren, geisteskranken Person.13
II. Notstandshandlung
Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein. Das ist der Fall, wenn die Notstandshandlung zur Abwendung der Gefahr generell geeignet ist und bei mehreren Handlungsmöglichkeiten das relativ mildeste Mittel darstellt.14
1. Erforderlichkeit (nicht anders abwendbar)
Die Formulierung, die Gefahr dürfe nicht anders abwehrbar sein, meint die Erforderlichkeit der Notstandshandlung. Diese ist genauso zu bestimmen wie bei § 34 StGB.15
Die Notstandshandlung ist erforderlich, wenn sie zum Schutz des Erhaltungsguts geeignet ist und sich bei gleicher Eignung mehrerer Handlungen als das mildeste Mittel erweist.16
Geeignet ist die Notstandshandlung bereits dann geeignet, wenn nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr führt.17
Andere, gleich geeignete Abwendungsmöglichkeiten können, abhängig vom Einzelfall, z.B. sein:
2. Unzumutbarkeitsklausel, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB
Nach § 35 Abs. 1 S. 2 StGB ist der Täter nicht entschuldigt, wenn ihm zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen.
S. 2 nennt beispielhaft zwei Fallgruppen, in denen die Zumutbarkeit relevant wird die Selbstverursachung der Gefahr und das Stehen in einem besonderen Rechtsverhältnis.
a) Klausurproblem: Selbstverursachung der Gefahr20
Es besteht weitgehende Einigkeit, dass die Formulierung der Selbstverursachung zu weit ist und eingeschränkt werden muss. Wie diese Einschränkung vorgenommen werden soll, ist aber umstritten. Vertreten wird insbesondere:
- Die Selbstverursachung müsse objektiv pflichtwidrig gewesen sein.
- Die Selbstverursachung müsse schuldhaft erfolgt sein.
- Die Selbstverursachung müsse ohne zureichenden Grund erfolgt sein, obwohl die Notstandslage vorhersehbar gewesen sei.
Die Ansicht, welche eine Schuldhaftigkeit verlangt, widerspricht den Gesetzesmaterialien. Die dritte Ansicht greift willkürlich nur einzelne Kriterien heraus, die im Rahmen einer umfassenden Pflichtwidrigkeitsprüfung ebenfalls berücksichtigt werden können.
Mit dieser Argumentation kann man der ersten Ansicht folgen und eine objektive Pflichtwidrigkeit der Selbstverursachung verlangen, welche im Rahmen einer Gesamtbewertung zu ermitteln ist.
b) Besonderes Rechtsverhältnis
Gemeint sind Berufsgruppen mit erhöhten Gefahrtragungspflichten, wie z.B. Soldaten, Polizeibeamte und Feuerwehrleute:
Gemeint sind Berufsgruppen, die per Rechtsnorm eine besondere Schutzpflicht gegenüber anderen wahrnehmen, deren Ausübung für den Berufsträger typischerweise besonders gefährlich ist.21
Dies können z.B. Soldaten, Polizisten oder Feuerwehrleute sein.
c) Andere Fallgruppen
Die Aufzählung in § 35 Abs. 1 S. 2 StGB ist nicht abschließend. Als Gründe für eine Zumutbarkeit, die Gefahr hinzunehmen kommen z.B. auch in Betracht:22
- eine Garantenpflicht speziell gegenüber dem Opfer der Notstandstat oder
- die Mitgliedschaft einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft.
B. Subjektive Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes
C. Strafzumessung
Wenn dem Täter die Hinnahme der Gefahr zugemutet werden kann, obwohl die Voraussetzungen von § 35 Abs. 1 S. 1 StGB vorliegen, so ist er zwar nicht entschuldigt. Aber nach § 35 Abs. 1 S. 2 zweiter Halbsatz StGB kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. Das gilt jedoch wiederum nicht, wenn die Zumutbarkeit aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses des Täters entfällt.
Wenn der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, bei deren Vorliegen er nach Absatz 1 entschuldigt wäre, wird er nach § 35 Abs. 2 StGB nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Bei einem unvermeidbaren Irrtum ist der Täter entschuldigt. War der Irrtum vermeidbar, so wird die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert.
Schlusswort
Ich hoffe, Du fandest diesen Überblick über den entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB hilfreich. Wenn Du Verbesserungsvorschläge hast, lass es mich gerne wissen! Ich bin immer bemüht, die Inhalte auf Juratopia weiter zu verbessern.
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Quellennachweise:
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 1
- BGH, Beschluss vom 28.06.2016, Az.: 1 StR 613/15.
- BGH, Urteil vom 25.03.2003, Az.: 1 StR 483/02.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 10/11.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 4.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 5.
- BeckOK, 49. Edition 2021, Stand 01.02.2021, § 35 Rn. 12.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 6/7.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 15.
- BGH, Beschluss vom 28.06.2016, Az.: 1 StR 613/15.
- BGH, Urteil vom 15.05.1979, Az.: 1 StR 74/79.
- s. etwa den sog. Haustyrannen-Fall des BGH, Urteil vom 25.03.2003, Az.: 1 StR 483/02.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 34 StGB Rn. 17.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 13.
- ]Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 13.
- BGH, Beschluss vom 28.06.2016, Az.: 1 StR 613/15; speziell zu § 35 StGB BGH, Urteil vom 21.05.1992, Az.: 4 StR 140/92..
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 13.
- Vgl. das Urteil des BGH im „Haustyrannen-Fall“: Urteil vom 25.03.2003, Az.: 1 StR 483/02.
- BGH, Urteil vom 25.03.2003, Az.: 1 StR 483/02.
- zum Streitstand mit weiteren Nachweisen MüKo StGB, 4. Auflage 2020, § 35 Rn. 46 ff.; BeckOK StGB, 49. Edition Stand 01.02.2021 Rn. 17.
- BeckOK 49. Edition Stand 01.02.2021, § 35 Rn. 18.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 31.
- Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 16.
- BGH, Urteil vom 14.10.1952, Az.: 1 StR 791/51; Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 35 StGB Rn. 16.