Der Aggressivnotstand (oder auch Angriffsnotstand) nach § 904 BGB ist neben ein im Strafrecht anerkannter Rechtfertigungsgrund.
Anders als beim Defensivnotstand nach § 228 BGB richtet sich beim Aggressivnotstand die Notstandshandlung nicht gegen die Sache, von der die Gefahr ausgeht. Vielmehr wird eine fremde Sache zur Abwehr einer dem Handelnden oder Dritten drohenden anderen Gefahr verwendet. Zum Ausgleich hat der Eigentümer der Sache nach § 904 S. 2 BGB einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch.
Im Folgenden zeige ich Dir zuerst ein Prüfungsschema zum Aggressivnotstand nach § 904 BGB. Darunter findest Du dann eine Zusammenfassung zum Aggressivnotstand mit den wichtigsten Definitionen und Klausurproblemen.
Prüfungsschema zum Aggressivnotstand nach § 904 BGB:
A. Objektive Voraussetzungen des Aggressivnotstandes
I. Notstandslage
1. Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut
2. Gegenwärtigkeit der Gefahr
II. Notstandshandlung
1. Einwirkung auf fremde Sache
2. Notwendigkeit
3. Verhältnismäßigkeit
B. Subjektive Voraussetzungen des Aggressivnotstandes
Zusammenfassung zum Aggressivnotstand nach § 904 BGB mit Definitionen und Klausurproblemen:
A. Objektive Voraussetzungen des Aggressivnotstandes
Objektiv setzt der Aggressivnotstand eine Notstandslage sowie eine erforderliche und verhältnismäßige Notstandshandlung voraus.
I. Notstandslage
1. Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut
Notstandsfähig sind – wie beim Defensivnotstand – eigene und fremde Rechtsgüter aller Art. Eine besondere Beziehung des Einwirkenden zu den bedrohten Rechtsgütern ist nicht erforderlich.1
Eine Gefahr im Sinne des § 904 BGB ist ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht.2
- Unerheblich ist, von welcher Person, Sache oder Naturgewalt die Gefahr ausgeht.3
- Wenn die Gefahr allerdings von der Sache ausgeht, auf die eingewirkt wird, greift der Defensivnotstand des § 228 BGB.
2. Gegenwärtigkeit der Gefahr
II. Notstandshandlung
1. Einwirkung auf eine fremde Sache
Einwirkung ist jede unmittelbare oder mittelbare6 Einwirkung auf die Sache, also eine Benutzung, Beschädigung oder sogar Zerstörung7. Beispiele für Einwirkungshandlungen sind:
- Befahren eines fremden Grundstücks in Notfällen8
- Löscharbeiten auf einem Nachbargrundstück9
- Sachbeschädigung bei der Reanimation eines Verletzten10
Achtung: Die Notstandshandlung muss aber privatrechtlich sein. § 904 BGB ist auf Einwirkungen in Ausübung hoheitlicher Befugnisse nicht anwendbar.11
Nach dem Wortlaut des § 904 S. 1 BGB muss sich die Einwirkung auf eine fremde Sache beziehen.
2. Notwendigkeit
Die Notstandshandlung ist notwendig, wenn sie zur Gefahrabwendung geeignet und unter mehreren gleich geeigneten Handlungen das mildeste Mittel ist.12
3. Verhältnismäßigkeit
Der drohende Schaden muss nach dem Wortlaut gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß sein.
- Achtung: Die grundsätzliche Gewichtung ist also genau andersherum als beim Defensivnotstand nach § 228 BGB. Dort darf der durch die Notstandshandlung eintretende Schaden nicht außer Verhältnis zur abgewendeten Gefahr stehen (mehr im Prüfungsschema zu § 228 BGB). Die Anforderungen sind bei § 904 BGB höher, da die Norm Eingriffe in die Rechtsgüter eines Unbeteiligten Dritten rechtfertigt.
- Beachte außerdem, dass nach dem Wortlaut bei Sachen eine Abwägung des jeweiligen Schadens vorzunehmen ist, nicht des Wertes der Sachen selbst.
- Die Beurteilung erfolgt grundsätzlich nach objektiven Gesichtspunkten, allerdings können im Einzelfall auch ideelle Interessen, etwa Affektionsinteressen bei Haustieren, berücksichtigt werden.13
- Leben und Gesundheit eines Menschen sind grundsätzlich höherwertig als Sachwerte.14 Eine andere Wertung kann nur bei völlig unerheblichen Blessuren gelten.15
B. Subjektive Voraussetzungen des Aggressivnotstandes
Der Handelnde muss die Umstände kennen, die die Notstandslage begründen sowie nach der herrschenden Meinung auch mit Gefahrenabwendungswillen gehandelt haben.16
Schlusswort
Ich hoffe, Du fandest diesen Überblick über den Aggressivnotstand nach § 904 BGB hilfreich. Wenn Du Verbesserungsvorschläge hast, lass es mich gerne wissen! Ich bin immer bemüht, die Inhalte auf Juratopia weiter zu verbessern.
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Quellennachweise:
- BeckOK BGB, 56. Edition 2020, § 904 BGB Rn. 4.
- BGH, Beschluss vom 28.06.2016, Az.: 1 StR 613/15.
- MüKo BGB, 8. Auflage 2020, § 904 BGB Rn. 5.
- RG, Urteil vom 12.03.1904, Az.: Rep. V. 36/04; BeckOK BGB, 57. Edition Stand 01.11.2020, § 904 Rn. 7.
- BeckOK BGB, 57. Edition Stand 01.11.2020, § 904 Rn. 7
- RG, Urteil vom 27.11.1937, Az.: V 138/37
- BeckOK BGB, 56. Edition 2020, § 904 BGB Rn. 10.
- OLG Karlsruhe, Urteil vom 25.01.1995, Az.: 6 U 198/93.
- OLG Nürnberg, Urteil vom 20.05.1999, Az.: 8 U 2317/98.
- OLG Bamberg, Urteil vom 24.02.2005, Az.: 1 U 136/04.
- BGH, Urteil vom 20.02.1992, Az.: III ZR 188/90
- zum mildesten Mittel BeckOK BGB, 56. Edition 2020, § 904 BGB Rn. 13; MüKo BGB, 8. Auflage 2020, § 904 BGB Rn. 8.
- vgl. MüKo BGB, 8. Auflage 2018, § 904 BGB Rn. 9, 11.
- OLG Hamm, Urteil vom 14.03.1995, Az.: 27 U 218/94.
- BeckOK BGB, 57. Edition Stand 01.11.2020, § 904 Rn. 14.
- BGH, Urteil vom 30.05.1972, Az.: VI ZR 139/70.